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Jens's Journal


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Der Fels im See

19:18 Dec 21 2007
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Ojibway (Wald- und Prärie-Indianer)



Am Anfang der Zeit, als die Welt noch jung war, kannten sich die Menschen vom Volk der Ojibway noch nicht auf der Erde aus. Sie froren, weil sie nicht wussten, wie man Feuer macht. Sie schliefen im Schneesturm und Regen, weil sie nicht wussten, wie man eine Hütte baut. Sie hungerten, weil sie nicht wussten, wie man Fische fängt und den Hirsch jagt.



Gitsche Manitu, der Große Geist, hatte Mitleid mit ihnen und sandte Nanabozho auf die Erde. Nanabozho war der Enkel des Mondes und der Sohn des Westwindes, er wurde der große Lehrer der Ojibway. Er zeigte ihnen, wie man Feuer macht, er zeigte ihnen, wie man Hütten baut, wie man Fische fängt und den Hirsch jagt. Er lehrte sie all die nützlichen Dinge, die sie wissen mussten.



Viele Jahre verbrachte Nanabozho im Land der Ojibway. Als er alt und müde geworden war, verließ er die Dörfer der Ojibway und baute sich eine Hütte auf einer einsamen Insel mitten in einem großen See. In den Dörfern der Ojibway vergaß man ihn aber nicht. Allen Kindern, die geboren wurden und heranwuchsen, erzählten die Großeltern und Eltern die Geschichten von Nanabozho, und alle Kinder wünschten, dass Nanabozho noch beim Volk der Ojibway lebte.



In einem der Dörfer gab es zehn Jungen, die wünschten sich das mehr als die anderen Kinder. Als sie erwachsen und junge Männer geworden waren, zogen sie von daheim fort. Sie wollten Nanabozho suchen und in das Land der Ojibway zurückholen. Viele Tage paddelten sie in ihren Kanus die Flüsse entlang, sie paddelten über die Seen, sie suchten auf jeder Insel. Endlich kamen sie zu jener Insel, auf der Nanabozho wohnte. Sie gingen an Land und sie sahen eine Hütte und vor der Hütte saß ein alter Mann mit weißem Haar, der älter war als alle alten Männer, die sie kannten.



Sie traten vor ihn hin.



,,Großvater'', baten sie, ,,wir sind einen weiten Weg gekommen. Nun haben wir dich gefunden. Die Menschen unseres Volkes haben dich nicht vergessen. Komm mit uns und kehre zu den Hütten der Ojibway zurück.''



Nanabozho schüttelte den Kopf. ,,Ich habe lange bei meinem Volk gelebt, ich habe es alles gelehrt, was es wissen muss. Jetzt bin ich müde und alt, und außerdem ist es an der Zeit, dass mein Volk lernt, auch ohne mich zu leben.''



Weil aber Nanabozho sah, wie enttäuscht die jungen Männer waren, fügte er hinzu: ,,Ich kann nicht mit euch zurückkehren, aber ihr sollt mich nicht umsonst gesucht haben. Sagt mir eure geheimsten Wünsche und ich werde sie erfüllen.''



Die jungen Männer sahen einander an. Jeder von ihnen hatte einen geheimen Wunsch - aber ob sie ihn auch aussprechen durften?



,,Ich habe mir immer gewünscht, ein großer Krieger zu sein'', sagte schließlich der Erste der jungen Männer ein wenig unsicher, weil er fürchtete, dass Nanabozho diesen Wunsch für unverschämt halten könnte.



,,Geh heim und sei ein großer Krieger'', antwortete Nanabozho. ,,Du wirst dein Volk vor seinen Feinden beschützen und keiner wird dich im Kampf besiegen.''



,,Ich will ein großer Jäger werden'', sagte der Zweite der jungen Männer, schon etwas mutiger geworden.



,,So soll es sein'', antwortete Nanabozho. ,,Wann immer du auf die Jagd gehst, wirst du mit Beute heimkommen. In den Zeiten des Hungers wirst du für die anderen sorgen.''



Jetzt wagten es auch die anderen jungen Männer ihre geheimen Wünsche zu sagen. Einer wollte ein großer Medizinmann werden, der Nächste ein großer Tänzer. Der Fünfte wollte ein Redner werden, der Sechste ein Geschichtenerzähler, der Siebente ein geschickter Kanu-Bauer, der Achte wollte der Schönste aller jungen Männer sein, der Neunte der schnellste Läufer. Allen diesen Wünschen versprach Nanabozho die Erfüllung.



Nur der Zehnte der jungen Männer schwieg und sagte nichts.



,,Hast du als Einziger keinen geheimen Wunsch?'', fragte Nanabozho.



,,Ja, ich habe einen Wunsch'', antwortete der junge Mann. ,,Ich liebe diese Welt und möchte für immer auf ihr sein, solange es sie gibt. Ich möchte für immer die Sonne auf meinem Gesicht spüren, den Regen und den Wind.''



Nanabozhos Gesicht verdüsterte sich. ,,Alle Menschen wissen, dass sie geboren werden und einmal sterben müssen. Willst du als Einziger anders sein als die anderen? Willst du wirklich, dass ich dir diesen Wunsch erfülle?''



,,Ja, ich will es'', sagte der junge Mann.



,,So sei es!'', sagte Nanabozho. ,,Du wirst immer auf dieser Welt sein, solange es sie gibt. Aber nicht als Mensch! Kein Mensch darf um ewiges Leben bitten.''



Nanabozho streckte die Hand aus.



Die jungen Männer sahen, wie ihr Gefährte größer und größer wurde, wie er seine Gestalt veränderte, wie er aus einem Menschen zu einem Felsen wurde.



Dieser Fels steht noch heute. Die Sonne wärmt ihn, der Regen fällt auf ihn nieder und der Wind streicht über ihn hin. Wenn Menschen vom Volk der Ojibway in ihren Kanus an der Insel vorbeifahren, erinnert sie der Fels daran, dass sie einmal diese Welt verlassen müssen, auch wenn sie diese Welt noch so sehr lieben.





Käthe Recheis

(1928 - )

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